Ökonomische Kompetenz der Piraten: “Fehlanzeige”oder doch eher “Paradigmenwechsel”?
Sicherlich hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung recht, wenn sie das wirtschaftspolitische Profil der Piratenpartei nun zum interessanten Objekt erklärt. Sehr schnell antwortet der Parteienforscher Uwe Jun von der Universität Trier auf die Frage nach dem ökonomischen Konzept der Piratenpartei mit „Fehlanzeige“. Die Partei habe sich in dieser Hinsicht nicht weiterentwickelt (vgl. FAZ 20.9.2011, S. 15; vgl. auch den Kommentar auf S. 20, wo darauf hingewiesen wird, dass der geforderte politische Dialog mit der „Netzgemeinde“ sich auch als interessant und gewichtserhöhend für die IT-Unternehmen erweisen könnte).
Millionen oder Milliarden oder Brutto und Netto
Natürlich kann man, wenn man will, die Einschätzung von Andreas Baum (Piraten Berlin), die Schulden in Berlin betrage viele, viele Millionen, als ökonomisch ignorant bezeichnen, weniger, dass kurze Zeit später eine App bereitgestellt wurde, die sekundengenau den Schuldenstand anzeigt. Und hatte nicht unsere Bundeskanzlerin 2005 in gleich zwei Interviews Brutto und Netto verwechselt!
Kein Vertrauen mehr in professionelle systemstabilisierende Ökonomen
Aber das sind nur lustige Kleinigkeiten. Wichtiger ist abzuklären, was denn heute ökonomische Kompetenz und ökonomisches Konzept bedeuten soll und welcher Kompetenz und welchem Konzept heute gefolgt werden soll. Das ist sicher ein zu großes Thema für einen Blogeintrag. Dennoch: Getraut wird wohl immer weniger der klassischen Kompetenz der professionellen Ökonomen, sowohl der aus der wissenschaftlichen Nationalökonomie als auch, und dies vor allem, der der Chefökonomen aus den großen Finanzinstituten, denen ja nach wie vor die herrschende Politik zuhört und folgt. Dabei wird es für jeden immer mehr ersichtlich, dass sowohl die theoretischen Modelle als auch die Ratschläge, es sind ja eigentlich immer nur Forderungen, uns in die Sackgassen geführt haben, die die Lebensqualität der meisten von uns weltweit (bis auf die happy few) immer mehr einschränken. Dann ist es gut zu erfahren, wenn und warum diese klassische Kompetenz grundlegend bezweifelt wird, auch ohne dass ein wirtschaftswissenschaftliches Studium vorab absolviert wurde.
Wieder eine Kopernikanische Wende
Im bestehenden Wirtschafts-/Finanz- und Theoriesystem wird es keine Lösungen für die für jedermann ersichtlichen Probleme geben. Was erforderlich ist, und das deutet sich bei der Piratenpartei an, ist das, was die Philosophen (Kant) eine kopernikanische Wende genannt haben, und was schlichter „Paradigmenwechsel“ heißt. Also mal ausprobieren, wenn man annimmt, dass sich nicht mehr die Sonne um die Erde dreht, sondern die Erde um die Sonne.
Wenden wir das auf den Umgang mit Wissen und Information an – sicher einer der entscheidenden Gegenstandsbereiche für die Entwicklung von Gesellschaft und Wirtschaft. Man kann es auch noch allgemeiner als Netzpolitik bezeichnen, als die Form, wie die elektronischen Räume gestaltet werden sollen. Welche Wende, welcher Wechsel sollten hier ausprobiert werden? Das Dogma, die heilige Kuh in dem gegenwärtigen System, ist die Priorität des privaten individuellen Interesses und des privaten Eigentums vor dem Interesse der Allgemeinheit und dem öffentlichen, gemeinschaftlichen Eigentum.
Was soll der Default sein: frei oder proprietär?
Versuche man einmal, das umzudrehen: Nicht die kommerzielle Verwertung von Wissen und Information sei der Default der Regulierung, sondern der freizügige Umgang mit Wissen und Information. Nicht die freie Nutzung müsste sich rechtfertigen, sondern die kommerzielle Nutzung als Sonderfall, die nur dann erlaubt sein sollte, wenn der freie Zugang gesichert ist. Entstehen kann dann auch eine Wirtschaft, die ja längst unter dem Stichwort „commons-based economy“ weltweit diskutiert und als mögliches neues Modell des Wirtschaftens und der sozialen Kultur auch breit empirisch belegt ist.
Paradox?
Dann entstehen, wie bei allen Paradigmenwechseln, zunächst einmal Aussagen, die im bisherigen Modell als paradox erscheinen, z.B.: „Die Informationswirtschaft wird auch in ökonomischer Hinsicht mit Wissen und Information umso erfolgreicher sein, je freier sie den Umgang mit Wissen und Information macht“. Undenkbar? Nein, man muss nur aufhören, sich zu weigern, in die Ferngläser zu schauen, nur damit man nicht die Jupitermonde sehen muss.
„commons-based“
Aber nicht nur beim Urheberrecht oder beim Patentrecht ergeben sich dann neue, innovationsfördernde Modelle, neues Denken gegenüber den besitzstandswahrenden Verkrustungen. Die politische und ökonomische Sprengkraft aus diesem Ansatz des „commons-based“ erweist sich auch auf allen anderen Politikfeldern. Dann muss man über eine neue Geld- und Finanzpolitik und Banksysteme nachdenken, neue Ordnungen für den öffentlichen Raum und das Gesundheits- und Verkehrssystem finden, …; bei der Energie- und Umweltpolitik werden diese Weg schon tastend, immer noch viel zu zögerlich betreten.
Gesellschaft und Politik haben sich längst darauf verständig, dass Ökonomie und Ökologie keinen Gegensatz darstellen. Das war die historische Leistung der GRÜNEN. Das war ein lange Zeit belächelter und als gefährlich angesehener Paradigmenwechsel. Heute deutet sich in der Tat ein neuer an, der ebenfalls zunächst marginalisiert wird, dann aber seine Relevanz für alle Lebensbereiche deutlich machen wird.
Transparenz und Diskurs – der eigentliche Paradigmenwechsel
Sicherlich wird sehr schnell versucht werden, die Ideen für eine „commons-based society/economy“, einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung im Interesse aller, in die Ecke eines obsoleten Kommunismus oder einer unverbindlichen folgenlosen Ethik zu rücken. Der Etiketten-Vorschlag für einen Commonismus mag auch nicht sehr überzeugend sein, aber die Idee ist richtig: die Interessen der vielen an dem, was ihnen allen eigentlich gehört – das Wissen, die Luft, das Wasser, der öffentliche Raum, …. – können nicht länger durch die private Aneignung durch einige Wenige ignoriert und oft genug sogar zerstört werden. Allgemeinverbindliche Lösungen gibt es nicht, schon gar nicht schnelle. Möglich werden sie nur durch freie transparente Diskurse im öffentlichen Raum. Das ist die Grundlage für auch ökonomische Kompetenz und ökonomische Konzepte. Diese Transparenz- und Diskursforderung ist vermutlich dann der eigentliche Paradigmenwechsel, den die elektronischen Räume erst umfassend möglich machen.
Comments (4)
Und das schöne: Beteiligen Sie sich doch aktiv bei den Piraten. Wir Piraten arbeiten uns in vielerlei Hinsicht erst ein. Das ist jedoch spannend und produktiv. Viele Personen aus unterschiedlichen Gebieten arbeiten Themen aus, recherchieren, verfassen Artikel bzw. Vorschläge (etc.). Das ist bürgernahe Politik “zum Anfassen”. Keine andere Partei bezieht die Bürger (für die schließlich Politik gemacht werden soll..) so stark mit ein. Das kann einfach nichts schlechtes sein.
Die Elemente des Paradigmenwechsels, der sich – das ist auch meine Meinung – derzeit ankündigt, sind noch lange nicht durchdekliniert. Aber es ist schon interessant zu sehen, dass den vielen Ideen, die zurzeit kursieren, etwas anhaftet, das unser bisheriges Wirtschaften aus einer völlig neuen Perspektive betrachtet.
Neben den hier aufgezählten Elementen des freien Zugangs zu Wissen und Information, des Commonismus, der Überwindung des Patentunwesens, zähle ich hier noch die Diskussion um ein Bedingungsloses Grundeinkommen dazu sowie die völlige Transparenz bei volkswirtschaftlichen Kosten und Nutzen, die durch elektronische Mittel herzustellen ist. Und zum Schluss erscheinen mir Ideen interessant, durch die die Institution der Bank in Frage gestellt wird.
Einige dieser Ideen habe ich, ohne Anspruch voll Vollständigkeit, in einem Text zusammengestellt.
http://www.sudelbuch.de/2011/was-tun
Ähnliches ist mir auch im Zusammenhang mit der Schulpolitik aufgefallen: Die Forderung der Piraten nach konsequenter individueller Förderung und der Gemeinschaftsschule klingt in den Ohren der meisten Menschen auch erstmal paradox und gibt es im bisherigen Parteiensystem so auch nicht. Für die einen geht z. B. Hochbegabtenförderung nur an Gymnasien und für die anderen ist sie einfach nur elitär. Dabei reichen die Gymnasien hoch kreative, nicht “schulkompatible” Köpfe kalt lächelnd “nach unten” durch, während Gemeinschaftsschulen dies nicht können und mit ihnen klarkommen müssen. Das klappt auch ganz gut, wie ich am Beispiel meiner Kinder sehen konnte.
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